Sieh dein Pferd jeden Tag mit neuen Augen ...
30.01.2020
Gastbeitrag von Bettina Ramm
Neulich habe ich auf Facebook eine Umfrage gesehen: Welche Rasse ist euer Pferd, und was sind seine Eigenschaften? Jeder Pferdebesitzer kann wohl auf Anhieb genau herunterbeten, welcher Typ sein Pferd ist. Eher neugierig oder zurückhaltend. Unterwürfig oder fordernd. Extro- oder introvertiert. Lernt langsam oder schnell. Leichtfuttrig, oder kriegt nichts auf die Rippen.
Und jede Rasse hat wohl auch ihre Eigenheiten und Charakterzüge, die man ihr nachsagt. Disziplinen, für die sie geeignet ist, und für die sie sich weniger eignet.
Menschen denken in Schubladen. Das ist normal, und dennoch glaube ich, dass Menschen, die ihr Pferd mit weniger festen Charakterzügen betiteln, mehr Freude an und mit ihm haben.
Da ist z. B. Maurice, der "Teufels-Hengst", der ein ganz normales, liebes Pferd zu sein scheint, bis man beginnt, etwas von ihm zu fordern. Dann wird er launisch und unberechenbar. Seine Besitzer wussten sich irgendwann nicht mehr anders zu helfen, als ihn auf einen Gnadenhof zu geben. Glück für das Pferd, andere landen dann rasch ganz woanders ... Denn Problem-Pferde, die einmal als solche eingestuft wurden, verkaufen sich sehr schlecht.
Ich weiß nicht, was dem Pferd fehlte. Ich habe sein Schicksal nur auf YouTube verfolgt. Würde ich mich hier an eine Diagnose wagen, wäre auch das wiederum nur eine Schublade. Vielleicht wurde er mal überfordert. Vielleicht wurde aber auch zu wenig von ihm gefordert. Vielleicht hat er auch die Probleme seiner Besitzer gespiegelt. Alexandra König von der Saliho School berichtet häufig und sehr einfühlsam von solchen Fällen.
Natürlich kann man das Pferd jetzt als launisch, gefährlich, unberechenbar betiteln und ihn auf Lebzeiten so behandeln. Doch ich glaube, da etwas tiefer reinzugehen, die Kategorien zu hinterfragen, lohnt sich mehr - sowohl für das Pferd als auch für den Menschen.
Pferde wollen von Natur aus gefallen, sie wollen tun, was man von ihnen verlangt. Wenn ich ein Pferd in eine Schublade lege, nehme ich ihm jede Chance dazu.
Das Ding ist - das mit den Schubladen ist unsere Natur. Wir machen es nicht bewusst. Es passiert einfach; bis wir es irgendwann bemerken. Dann können wir es hinterfragen. Bis es irgendwann wieder passiert. Es ist normal und menschlich. Nichts Schlimmes. Wenn wir es merken, hinterfragen wir es. Das ist alles.
Das zweite Ding ist - Schubladen-Denken verhindert genau das, was uns in solchen Fällen helfen würde, nämlich tiefer zu gehen. Uns in das Pferd hineinzufühlen. Damit wir spüren, was das Pferd wirklich braucht und was ihm fehlt, ist es besser, wenn wir offen und unvoreingenommen sind. Ganz bei uns, ganz im Moment. Sonst greift sofort unser innerer Filter, und sagt uns, siehste - hab ich dir doch gleich gesagt.
Und deshalb lohnt es sich, die eigenen Schubladen öfter mal anzuschauen und auszumisten.
Ich behaupte: Keine Eigenschaft deines Pferdes ist in Stein gemeißelt und unveränderlich. Mehr noch - sobald du glaubst, dass dein Pferd sich nie (mehr) ändern wird, wird seine Chance, es zu tun, um ein Vielfaches kleiner.
Lernen Pferde, die langsam lernen, immer langsam? Kann sich das nicht auch ändern?
Sind schreckhafte Pferde wirklich schreckhaft auf Lebenszeit?
Neben dem unendlichen Potenzial, das dein Pferd zur Weiterentwicklung und zum Wachstum mitbringt, gibt es da ja auch noch die Tagesform. Wie oft halten wir die eine Tagesform für die Regel, und die andere für die Ausnahme? Doch wer sagt, dass es wirklich so ist?
Ich möchte dich ermutigen, dein Pferd öfter mal zu betrachten, als würdest du es nicht schon jahrelang kennen. Als wäre es ein völlig unbekanntes, neues Wesen, das da vor dir steht. Genau genommen ist es das ja auch. Wir alle sind in jedem Moment immer wieder völlig neu, egal wie unsere Vergangenheit aussah.
Spürst du die Chance zur Veränderung, die darin liegt?
In zwei Wochen hole ich mein eigenes Pferd ab. Es ist schwierig, dominant, starrköpfig, hat man mir gesagt. Die Hufe gibt er nicht so gut. Doch als ich da war, habe ich ein ganz anderes Pferd erlebt. Neugierig, treuherzig, offen und freundlich.
Er ist ein Tinker, die sind eher für die Kutsche gezüchtet. Reiten kann man sie sehr schlecht. Ich war schon traurig, weil ich so gerne wieder Dressurlektionen reiten würde - und habe gar nicht gemerkt, wie das Schubladendenken mich wieder gepackt hatte. Bis Toni mir ein Video von einem Tinker in einer (höheren) Dressurprüfung weiterleitete.
Wenn wir unsere Regeln und Kategorien für einen Moment niederlegen, machen wir Platz für neue Eindrücke und Erlebnisse. Gib deinem Pferd eine neue Chance. Sieh es täglich mit neuen Augen.
Viel Spaß und gute Erkenntnisse,
💖 Bettina
Kategorien: Pferdegerecht | Schlagworte: Gedankenexperimente, Trainingsimpulse